Singen ist „Kraftfutter“ für Kindergehirne

Die Bedeutung des Singens für die Hirnentwicklung

Von Gerald Hüther

Kindergehirne entwickeln sich nicht von allein. Damit es unseren Kindern gelingt, in ihrem Gehirn all die vielen komplexen Netzwerke herauszuformen, die erforderlich sind, um sich später im Leben zurechtzufinden, brauchen sie unsere Hilfe. Wir müssen ihnen zeigen und sie ermutigen, all das zu erlernen, worauf es im Leben ankommt. Dabei geht es weniger um den Erwerb von Wissen, sondern vor allem um die Aneignung all jener Fähigkeiten und Kompetenzen, die sie in die Lage versetzen, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen und sich dabei selbst Wis- sen anzueignen und eigene Erfahrungen zu sammeln.

Alles, was die Beziehungsfähigkeit von Kindern – zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Natur und zur Kultur in der sie leben – verbessert, ist deshalb die wichtigste „Entwicklungshilfe“, die wir unseren Kindern bieten können. Indem Kinder gleichzeitig mit sich selbst, mit anderen Menschen und dem was sie umgibt, in Beziehung treten, stellen sie auch in ihrem Gehirn Beziehungen zwischen den dabei gleichzeitig aktivierten neuronalen Netzwerken her, erhöhen sie das Ausmaß der Konnektivität. Die Gelegenheiten, bei denen Kindern das gelingt, sind Sternstunden für Kindergehirne.

Sie werden in einer von Effizienzdenken, Reizüberflutung, Verunsicherung und Anstrengung geprägten Lebenswelt leider immer seltener. Im gemeinsamen, unbekümmerten und nicht auf das Erreichen eines bestimmten Zieles ausgerichteten Singen erleben Kinder solche Sternstunden. Sie sind Balsam für ihre Seele und Kraftfutter für ihr Gehirn. In solchen Augenblicken werden in ihrem Gehirn gleichzeitig sehr unterschiedliche Netz- werke aktiviert und miteinander verknüpft:

jenseits von Leistung. Bei zehn Singpat(inn)en ist es möglich, dass intensive Beziehungen zwischen den Singpat(inn)en und den Kindern wachsen, was angesichts der Scheidungsrate von Eltern im Kita-Alter ihrer Kinder wichtig wird. Wie wichtig gelingende Beziehungen für die Gesundheit sind betont der Neurobiologe Bauer. „Überall dort, wo zwischenmenschliche Beziehungen quantitativ und qualitativ abnehmen, nehmen Gesundheitsstörungen zu“ (Bauer 2002, S. 19).

Die ehrenamtlichen Singpat(inn)en und die Erzieher/innen werden in diesem Programm professionell begleitet und weitergebildet. Bisher wurden 250 Kitas in Deutschland in das Singpatenprogramm eingeführt und etwa 100.000 Kindergartenkinder erreicht. Es erfreut sowohl die Kinder und die Erzieher/innen, die berichten, wie gut es den Kindern tut und dass sie deutlich Entwicklungsvorteile im Sinne der oben geschilderten wissenschaftlichen Befunde bei ihren Kindern feststellen können. Vor allem verändert es positiv den Kita-Alltag und bringt bei relativ kleinem Aufwand vielfältige Erleichterungen für die Erzieher/innen. Auch die Singpat(inn)en sind in der Regel sehr glücklich mit ihrem Engagement und erfahren dabei die beschriebenen Wirkungen des Singens zugleich selbst. Entsprechend regenerieren sich die Singpatengruppen in der Regel eigenständig, wenn jemand aus dem Kreis krank wird oder stirbt. Die Mehrzahl der Gruppen hat sich nach dem Anschub bis heute erhalten, manchmal schon über mehr als anderthalb Jahrzehnte.

Canto elementar erhielt 2011 den Gunther und Juliane Ribke Preis für besondere musikpädagogische Leistungen, 2012 den Deutschen Nationalpreis, 2013 wurde es vom Bundesbildungsministerium als Bildungsidee für Deutschland gekürt und 2014 im Wettbewerb start- social – Hilfe für Helfer unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin Angela Merkel als Preisträger ausgezeichnet.

Das Singpatenkonzept könnte und sollte im Interesse der Kinder bundesweit ausgedehnt werden. Das ist grundsätzlich möglich. Denn es gibt Millionen Seniorinnen und Senioren, die das Singen noch in ihrer Kindheit mit der Muttermilch aufgesogen haben und es den Kindergartenkindern weitergeben können, was die Eltern und Erzieher/innen in der Regel nicht mehr können. Nur Menschen, die selbst begeistert singen, können Kinder zum Singen begeistern. Für die etwa 50.000 Kitas bundesweit müsste man 500.000 Senior(inn)en als Singpat(inn)en gewinnen, eine Sozialbewegung für das einfache Singen, die sich lohnt. Wenn man den vielfältigen Gewinn dieses Ansatzes für die Kinder und die Erzieher/innen betrachtet, der so von Musikpädagog(inn)en nicht möglich ist und ihren wünschenswerten Einsatz wunderbar fundieren kann, sind die einzusetzenden finanziellen Mittel relativ gering.

Bisher hat noch keiner der großen Kindergartenträger die Chan- cen des Singpatenprogramms erkannt. Auch die Kontakte zu Landesregierungen waren bisher noch nicht erfolgreich. Die Chorverbände, die aufgrund ihrer Hunderttausenden älteren Mitglieder dazu relativ leicht in der Lage wären und aus deren Kreisen auch die Mehrheit der bisher 2.500 Singpat(inn)en bundesweit kommt, waren bisher leider auch noch nicht zu überzeugen, ihre älteren Mitglieder für dieses Programm zu begeistern und zu kooperieren. Als Begründung wird vor allem angeführt, dass die Senior(inn)en zu tief sängen und dadurch die Kinderstimmen Schaden nehmen würden. Das wurde allerdings durch führende Kinderstimmexperten wie Prof. Hess und Prof. Adelmann nicht nur widerlegt, sondern es wurde vielmehr gezeigt, dass vor allem zu hohes Singen den zumeist ungeübten Kinderstimmen schaden kann.

Sie zeigten unter anderem, dass heutige Kinder erstens größer werden und deshalb tiefer singen als früher, zweitens auch zuhause und in der Kita so gut wie nicht mehr singen, so dass ihre Stimmen ungeübt sind und deshalb nicht so hoch singen können und drittens, dass ein tieferes Singen der Kinderstimme grundsätzlich nicht schadet, dass es nur leiser ist, eben Zimmerlautstärke, die für die Bühne nicht taugt. Es scheint, als ob die Orientierung an Chorstimme und somit an singenden Leistungsträgern, die generell höher singen, hier den Blick noch zwischen- zeitlich verstellt hat. Es wird deutlich, dass es hier um einen ge- samtgesellschaftlichen Lernprozess geht, der seine Zeit braucht. Das Interesse der Deutschen Liga für das Kind an diesem Thema macht Hoffnung, dass ein Umdenken mit praktischen Konsequenzen im Interesse der Kinder erfolgen kann.

Ausblick
Ein Kinderrecht auf die Entfaltung der Singfähigkeit als Selbstausdruck ist wissenschaftlich begründet. Die Forschungsbefunde zeigen: Einfaches Singen gehört wieder in die Ausbildungsrichtlinien für Erzieher/innen. Das ist Sache der Bundesländer. Die Förderung der unterentwickelten Alltagskulturen des Singens hat positive gesellschaftliche Auswirkungen. Es erscheint lohnenswert, in Praxis und Theorie zu erkunden, welche individuellen und sozialen Potenziale im einfachen Singen als Selbstausdruck entfaltet werden können und daraus neue nützliche Lebensformen zu entwickeln. Das preisgekrönte Generationen verbindende Singpatenprogramm Canto elementar bietet zur flächendeckenden Umsetzung dieses Kinderrechtes vielfältige realisierbare Chancen. Es ist praxiserprobt und ein bundesweiter Ausbau ist sinnvoll, lohnenswert und machbar.

(1)    Es kommt beim Singen zu einer Aktivierung emotionaler Zentren und einer gleichzeitigen positiven Bewertung der dadurch ausgelösten Gefühle. So wird das Singen mit einem lustvollen, glücklichen, befreienden emotionalen Zustand verkoppelt („Singen macht das Herz frei“).

(2)    Das gemeinsame, freie und lustvolle Singen führt zu sozialen Resonanzphänomenen. Die Erfahrung von „sozialer Resonanz“ ist eine der wichtigsten Ressourcen für die spätere Bereitschaft, gemeinsam mit anderen Menschen nach Lösungen für schwierige Probleme zu suchen („Wo man singt, da lass’ Dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“).

(3)    Gemeinsames Singen mit anderen aktiviert die Fähigkeit zur „Einstimmung“ auf die Anderen und schafft so eine emotional positiv besetzte Grundlage für den Erwerb sozialer Kompetenzen (Rücksichtnahme, Einfühlungsvermögen, Selbstdisziplin und Verantwortungsgefühl).

(4)    Da das Singen am Anfang immer mit anderen und mit der dabei empfundenen positiven emotionalen Besetzung erfolgt, kommt es zu einer sehr komplexen Kopp- lung, die später im Leben, auch beim Sin- gen ganz allein für sich, wieder wachgerufen wird (Singen macht froh und verbindet).

(5)    Beim Singen kommt es individuell zu sehr komplexen Rückkopplungen zwischen erinnerten Mustern (Melodie, Tempo, Takt) und dem zum Singen erforderlichen Aufbau sensomotorischer Muster (Wahrnehmung und Korrektur der eigenen Stimme). Singen ist also ein ideales Training für Selbstreferenz, Selbstkontrolle, Selbststeuerung und Selbstkorrektur.

6) Zusätzliche, sich ebenfalls automatische einstellende „Nebeneffekte“ des Singens sind:

– Erleichterung von Integrationsprozessen (Migranten, Behinderte etc.)
– salutogenetische Wirkungen (Singen heilt Wunden)
– Generationen übergreifende Wirkungen (Alt und Jung)
– Erleichterung des Spracherwerbs (Singtherapie bei Sprachentwicklungsstörungen)
– transgenerationale Weitergabe von Kulturleistungen (Volkslieder, Singtraditionen etc.)

Es ist eigenartig, aber aus neurowissenschaftlicher Sicht spricht alles dafür, dass aus der Perspektive einer Leistungsgesellschaft die scheinbar nutzloseste Leistung, zu der Menschen befähigt sind – und das ist unzweifelhaft das unbekümmerte, absichtslose Singen – den größten Nutzeffekt für die Entwicklung von Kindergehirnen hat. Und wer seine Singfähigkeit in der Kindheit entfalten konnte, der kann diese Effekte später über den ganzen Lebensbogen bis ins Alter nutzen. Denn Sin- gen fördert in jeder Lebensphase die Potentialentfaltung des Gehirns.

 

Prof. Dr. Gerald Hüther ist Neurobiologe und Mitglied im Beirat von Il canto del mondo e.V.

Dr. Karl Adamek ist Sozialwissenschaftler, Sozialkünstler und Gründer von Il canto del mondo e.V. in Hattingen. Im Jahr 2017 erhielt er das Bundesverdienstkreuz.

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