Singen ist ein Kinderrecht

Ist-Stand – Forschungsbefunde – Praxistransfer | Von Karl Adamek

 

Das Folgende scheint auf den ersten Blick nicht in unser rational geprägtes Weltbild zu passen:  Die Dimension des Fühlens handhaben wir in unserem Bildungssystem eher als etwas Störendes.  Entsprechend verkümmerte bei der Mehrheit die einzigartige und unmittelbare Sprache der Gefühle,  die der Mensch über Jahrtausende entwickelt hat – nämlich das Singen. Doch aktuelle empirische  Befunde geben uns mit neuen Erkenntnissen über die Bedeutung des Singens für das Menschsein erstaunliche Einblicke und Handlungsperspektiven im Sinne der Kinderrechte. Sie zeigen auch die  grundlegende Bedeutung der in unserem Bildungssystem unterschätzten emotionalen Kompetenzen  bezüglich ihrer positiven Auswirkungen auf die Kindheit und den ganzen Menschen.

 

Die wachsenden Probleme der Kinder in unserer Gesellschaft sind unübersehbar. Durch Singen kann der Mensch seine psychische, physische und soziale Gesundheit nachhaltig positiv beeinflussen. Die Befunde zeigen, dass das auch für Kinder gilt. Singen ist ein „Gesundheitserreger“ im Sinne der Salutogenese. Es wird erkennbar: Wenn alle Kindergartenkinder das Singen als unmittelbaren Selbstausdruck, spielerisch und jenseits von Leistung als „eigentliche Muttersprache des Menschen“, wie Sir Yehudi Menuhin es aus- drückte, nur einen Bruchteil so gründlich erlernen würden wie das Sprechen, dann ginge es unseren Kindern deutlich besser.

Sie wären vor allem glücklicher, gesünder, gemeinschaftsfähiger und friedfertiger, würden schon früh ein Empfinden der Menschenwürde entwickeln. Sie würden darüber hinaus ihre Potenziale besser entfalten, hätten es einfacher mit dem Spracherwerb und würden leichter lernen, unabhängig von der sozialen Herkunft. Weil Singen alle Hirnfunktionen optimiert, also messbar zentrale Lebensfunktionen erfüllt. Entsprechend geht die Verkümmerung dieser unmittelbaren Gefühlssprache „Singen“, was für die Mehrheit unserer Kinder leider gilt, mit messbaren Nachteilen einher.

Daraus ergibt sich – abgeleitet aus der Kinderrechtskonvention – ein Kinderrecht auf Entfaltung ihrer Singfähigkeit. Von seiner Verwirklichung sind wir noch sehr weit entfernt, aber die Richtung wird deutlich. Wer dabei hilft, dieses Recht schrittweise zur Lebenswirklichkeit zu machen, leistet damit Wichtiges für eine enkeltaugliche Entwicklung unserer Gesellschaft. Hier sind vor allem die Kindergartenträger, die Politikerinnen und Politiker, die Bundesländer und die Organisationen zur Interessenvertretung der Kinder gefordert. Das vielfach preisgekrönte Generationen verbindendende Singpatenprogramm Canto elementar wird hier als ein praxiserprobter Lösungsansatz vorgestellt. Wegen seiner besonderen Verbindung von Ehrenamt und professioneller Begleitung kann es einen wirkungsvollen Beitrag leisten, damit alle Kindergartenkinder ihre Singfähigkeit angemessen und auf spielerische Weise in lebendiger Gemeinschaftlichkeit der Generationen entfalten können.

 

Wo stehen wir?

In den letzten 50 Jahren wurde das einfache Singen als unmittelbarer Selbstausdruck in der Pädagogik in der Regel als unbedeutend abgetan. Die Hauptenergie ging bis heute in die rationale Bildung. Den Lebensbedürfnissen der Kinder scheint das nicht zu entsprechen. Zunehmende Probleme der Kinder werden öffentlich. Nach den Erkenntnissen des Neurobiologen Prof. Singer ist die Entwicklung der nicht-rationalen, das heißt der nicht-wort- sprachlichen Kommunikationsformen und -kompetenzen wie zum Beispiel Singen für die gesunde Gehirnentwicklung des Säuglings und Kindergartenkindes von zentraler Bedeutung.
Wer würde nicht sofort zustimmen, wenn gesagt wird, dass die Zukunftsperspektive einer Gesellschaft auch an der Qualität ihrer Fürsorge für das Wohl ihrer Kinder zu messen sei? Die Tatsache, dass es seit knapp 30 Jahren eine UN-Kinderrechtskonvention gibt, die von der Mehrheit der Staaten unterschrieben wurde, ist ein unschätzbarer historischer Fortschritt in den Verfassungs-Ansprüchen dieser Staaten. Es ist zu hoffen, dass diese Ansprüche von den Bürgern auch zu Verfassungs-Wirklichkeiten gemacht werden. Dabei geht es auch um die Umsetzung eines wissenschaftlich begründeten Kinderrechtes auf die Entfaltung ihrer Singfähigkeit.

 

Wo kommen wir her?

Mitte der 1960er Jahre wurde Singen aus den Ausbildungsrichtlinien für Erzieher/innen bundesweit gestrichen, was bis heute gilt. Singen verschwand in der Folgezeit weitgehend aus den Kindergärten, der Familie, dem Freundeskreis. Doch Kleinkinder lernen Singen wie Sprechen über Vorbilder. Die fehlen heute weitestgehend. Während das einfache Singen aus dem Alltag ver- schwand, wurden hingegen von „Spezialisten“ gesungene Songs in den Medien allgegenwärtig. Wenn im Umfeld jedoch nicht das Singen als Selbstausdruck gelebt wird, können die Kinder es in dieser grundlegenden Funktion kaum lernen. Die meisten Kindergartenkinder lernen es heute sowohl im Elternhaus als auch im Kindergarten nur noch sehr selten. Genaue Statistiken fehlen hier. Heute können nach Schätzungen von Kita-Trägern nur noch zwischen 10 und 20 Prozent der Erzieher/innen Kinder zum Singen begeistern. Die heutigen Forschungsbefunde machen deutlich, dass diese Entwicklung zum Schaden der Kinder und der Gesellschaft war und ist. Singen gehört demgegenüber in anderen Ländern wie dem ehemaligen PISA-Meister Finnland aus gutem Grund auch heute zur Basisqualifikation von Erzieher(inne)n und Lehrer(inne)n.

 

Wo geht es hin?

Das gemeinsame einfache Singen, spielerisch und jenseits von Leistung, birgt einzigartige Chancen in der Früherziehung, da es unabhängig vom sozialen Status neben den später noch darzustellenden biopsychosozialen Gesundheitseffekten
(1) besondere Gemeinschaftserfahrungen aller Kinder ermöglicht,
(2) Inklusion fördert, da behinderte Kinder in der Regel keine Schwierigkeiten mit dem Singen haben,
(3) Integration unterstützt, da Kinder mit Migrationshintergrund über das Singen nicht nur leichter als über die meisten anderen Formen spielerisch in die Gemeinschaft integriert werden können, sondern Singen auch messbar den Spracherwerb erleichtert.

Wie wichtig der Kindergarten für die Zukunft der Kinder ist, zeigt die KiGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, die den bedenklichen Zusammenhang von sozialem Status und Gesundheit bei Kindern zeigt. Hier sind die Kitas gefordert, ausgleichend zu wirken.

Im Jahr 1996 konnte durch Adamek erstmals empirisch belegt werden: Der Mensch kann durch sein einfaches Singen als Selbstausdruck jenseits von Leistung seine psychische, physische und soziale Gesundheit nachhaltig positiv beeinflussen.

Aufgrund dieser neuen Forschungsbefunde wurde im Jahr 1998 die pädagogische Geringschätzung des einfachen Singens seit den 1960er Jahren in einer Resolution des Deutschen Musikrates als schwerwiegender Irrtum erkannt. Daraufhin begann wieder eine vorsichtige Diskussion über die Bedeutung des einfachen Singens in der Kindheit, die das Grundsätzliche betraf und weit über Tingeltangel oder das verständliche Spezialinteresse der Gewinnung von Chornachwuchs hinausgeht. Es entstanden in der Folge immer mehr Projekte und Programme zur Förderung des Singens im Kindergarten. Doch im Vergleich zur grundlegenden Bedeutung der Befunde geschah bezüglich der praktischen Umsetzung dieser Erkenntnisse bis heute noch relativ wenig, wenn man erstens das Mögliche, Sinnvolle und Wünschenswerte bedenkt und zweitens, dass diese Erkenntnisse die vitalen Lebensinteressen aller Kinder betreffen und die diesbezüglichen pädagogischen Maßnahmen nicht einer kleinen Gruppe aus eher zufälligen Gründen vorbehalten bleiben darf.

Sozialwissenschaftliche Befunde

In der schon angeführten umfangreichen empirisch-soziologischen Untersuchung von Adamek Mitte der 1990er Jahre zur physischen, psychischen und sozialen Bedeutung des Singens für den Menschen mit mehr als
1.000 Untersuchungsbeteiligten, deren grundlegende Ergebnisse später von Blank und Adamek auch für Kinder empirisch belegt werden konnten, zeigte sich zusammengefasst: Menschen, die das Singen als Selbstausdruck in der Kindheit gelernt haben, sogenannte „Singer“, sind im Vergleich zu „Nicht-Singern“ durchschnittlich gesünder und zwar sowohl psychisch als auch physisch und sozial. Sie sind durchschnittlich lebenszufriedener und glücklicher, sind ausgeglichener und zuversichtlicher, haben ein größeres Selbstvertrauen, sind häufiger guter Laune und verhalten sich im Durchschnitt sozial verantwortlicher und hilfsbereiter. Durch alltägliches Singen kann der Mensch positive Lebenshaltungen entfalten und seinen Gemeinsinn fördern. Er kann seine körperliche und psychische Leistungsfähigkeit durch Singen gezielt steigern. „Singer“ sind auch durchschnittlich psychisch belastbarer und haben mehr Widerstandskraft.

Singen stärkt darüber hinaus die soziale Gesundheit. Es fördert nachweislich nicht nur die Entwicklung von Mitgefühl und Gemeinschaftsfähigkeit, sondern dient dem Menschen auch als sozialverträgliche Bewältigungsstrategie negativer Emotionen wie beispielsweise Angst, Aggression, Trauer. Durch Singen kann der Mensch seine physische und psychische Tatkraft aktivieren, Depressionen überwinden und immer wieder eine optimistische Lebenshaltung gewinnen. Singen stärkt das Selbstvertrauen, die Lebenszufriedenheit und das Selbstwertgefühl. Es trägt dazu bei, ein Empfinden von Menschenwürde zu entwickeln. Singen kann somit die Entwicklung von emotionalen Kompetenzen und Lebenshaltungen fördern, die für eine demokratische Gesellschaft grundlegend sind.

Vor allem löst Singen Angst auf und ist eine optimale Angstbewältigungsstrategie. Angst ist ein lebenswichtiges menschliches Gefühl. Sie warnt den Menschen in einer akuten Situation vor möglichen Gefahren und aktiviert kurzfristig große Potenziale, die lebensrettend sein können. Wenn die Angst ihre Aufgabe erfüllt hat, löst sie sich im gesunden Organismus wieder auf.
Angst als Dauergefühl ist jedoch als Krankheit anzusehen, denn dann wirkt sie zerstörerisch. Das Problem: Angst ist heute zur verbreiteten Grundbefindlichkeit der meisten Menschen und ihrer Kinder in den modernen Gesellschaften geworden. Das hat vielfältige negative Auswirkungen und kann zu Depressionen führen.

Die Weltgesundheitsorganisation sieht in der epidemischen Entwicklungstendenz von depressiven Erkrankungen in Europa eine äußerst ernst zu nehmende Gefährdung, weil die zu erwartenden Kosten die Volkswirtschaften zugrunde richten könnten. Angst geht an die Wurzeln des Lebens. Denn Angst als Dauerzustand zersetzt die individuelle und soziale Gesundheit. In Angst reduziert sich die Fähigkeit zu Mitgefühl drastisch. Angst geht immer mit einer tendenziellen motorischen, vegetativen und mentalen Lähmung sowie einer sozialen Isolierung einher. In Angst können wir also nur einen Bruchteil dessen tun, wozu wir in Freude und Begeisterung in der Lage sind. Zugleich besteht die Gefahr, dass Angst mit aufbrechender Aggression und Gewalttätigkeit kompensiert wird.

Die Befunde weisen hiermit auf ein wichtiges, bisher weitgehend übersehenes Potenzial des Menschen hin. Seine Berücksichtigung öffnet neue Perspektiven. Singen gehört offenbar zur Natur des Menschen wie das Sprechen. Singen erfüllt lebenswichtige Funktionen. Ohne Singen kann der Mensch seine Potenziale als mitfühlendes, denkendes, kreatives und glücksfähiges Wesen nicht voll entfalten. Durch Singen stärkt der Mensch vor allem sein Mitgefühl, sein Vertrauen, seine Begeisterungsfähigkeit, seine Lebensfreude, seine Widerstandskraft und seine körperlichen und geistigen Handlungskräfte. Die Überlieferungen der Völker bergen intuitiv dieses Wissen. Wir finden dort oft erstaunlich entwickelte Alltagskulturen des Singens. Sie sind aber auf dem Weg in die Moderne abgetan worden und weitgehend verfallen.

Singen als vitaler und unmittelbarer Lebensausdruck des Einzelnen und der Gemeinschaft, als Sprache der Gefühle, jenseits der menschheitsgeschichtlich späteren Spezialisierung als Kunst und jenseits der Bewertung als richtig oder falsch, erfüllt seit Anbeginn der Menschheit wichtige Funktionen sowohl für die Menschwerdung als auch für das Menschsein. Der Neurobiologe Hüther führte diese neue Erkenntnis in einem Vortrag mit dem Titel „Der Anteil des Singens an der Menschwerdung des Affen“ im Jahr 2017 aus.

Die Forschungsbefunde zeigen: Singen gehört zum Wesen des Menschen wie die Sprache und muss sich wie diese durch Lernen am Vorbild in frühester Kindheit entwickeln. Singen wird erkennbar als ein einzigartiges Potenzial, das der Mensch offenbar zur vollen Entfaltung seines Menschseins braucht, vergleichbar der Sprache, und er- füllt zentrale Lebensfunktionen. So wie die Sprache die Denkfähigkeit fördert, scheint das Singen als Sprache der Gefühle komplementär für die Entfaltung der Fühlfähigkeit und des Mitgefühls wichtig zu sein.

Spezielle Befunde bei Kindergartenkindern

Die Befunde der ersten grundlegenden empirischen Forschungsarbeit von Blank und Adamek zur physischen, psychischen und sozialen Bedeutung der Singfähigkeit in der Kindheit, die mit 450 Kindergartenkindern im Rah- men von Schuleignungstests im Jahr 2001 in Münster durchgeführt wurde und bei der die Ärztinnen und Ärzte und Psycholog(inn)en im Rahmen eines größeren bundes- weiten Forschungsprogramms etwa 90 verschiedene medizinische und psychologische Tests einsetzten, belegen die dargestellten Befunde bei Erwachsenen auch für Kinder. Wie bei der Untersuchung mit Erwachsenen wurden die Kinder in „Viel-Singer“ und „Wenig-Singer“ bzw. „Nicht-Singer“ unterteilt und die Gruppen verglichen. Dies geschah anhand einer geeigneten Analyse ihrer Stimmentwicklung.

Im Detail zeigen die Befunde zusammengefasst: Singende Kinder entwickeln sich auf nahezu allen Ebenen besser als Kinder, bei denen diese Fähigkeit verkümmert ist. Singen hat einen messbaren eigenständigen positiven Effekt auf die physische, psychische und soziale Entwicklung, die körperliche Gesundheit und die Regelschulfähigkeit von Kindergartenkindern. Die einzelnen Effekte akkumulieren sich zu einem signifikanten Gesamteffekt. Das wirkte sich direkt auf das Leben der Kinder aus: Von den singenden Kindern dieser Untersuchung wurden knapp 90 Prozent als regelschulfähig eingestuft gegenüber 44 Prozent der nicht singenden Kinder. Singen wurde als ein zentraler Entwicklungsfaktor in der Kindheit nachgewiesen (Blank & Adamek 2009).

Singen wird den Befunden zufolge auch schon von Kindern intuitiv als Bewältigungsstrategie negativer Emotionen genutzt, was für Erwachsene bereits herausgefunden wurde. Dies zeigt sich u.a. darin, dass Kinder mit schwer belastenden Lebenskontexten wie der Trennung der Eltern deutlich häufiger als Kinder ohne derartige Belastungserfahrungen zu der Gruppe der viel Singenden gehören und entsprechend häufiger die Gesamtbewertung „regelschulfähig“ erreichen. Allem Anschein nach haben sie aufgrund ihrer Not bei der natürlichen Suche nach Lösungen die aufgezeigte salutogenetische Wirkung des Singens mit seiner Bewältigungsfunktion wie auch immer für sich entdeckt und zu nutzen gelernt. Singen kann den Ergebnissen zufolge also auch schon bei Kindergartenkindern als physischer, psychischer und sozialer „Gesundheitserreger“ wirken.

Die Befunde zeigen die deutlichsten Entwicklungsvorteile für viel singende Kindergarten- kinder in den folgenden Entwicklungs- und Verhaltensbereichen:
(1) Sprachentwicklung
(2) kognitive Entwicklung
(3) koordinative Entwicklung
(4) emotionales Verhalten
(5) soziales Verhalten

Singen wird den Befunden zufolge auch schon von Kindern intuitiv als Bewältigungsstrategie negativer Emotionen genutzt, was für Erwachsene bereits herausgefunden wurde. Dies zeigt sich u.a. darin, dass Kinder mit schwer belastenden Lebenskontexten wie der Trennung der Eltern deutlich häufiger als Kinder ohne derartige Belastungserfahrungen zu der Gruppe der viel Singenden gehören und entsprechend häufiger die Gesamtbewertung „regelschulfähig“ erreichen. Allem Anschein nach haben sie aufgrund ihrer Not bei der natürlichen Suche nach Lösungen die aufgezeigte salutogenetische Wirkung des Singens mit seiner Bewältigungsfunktion wie auch immer für sich entdeckt und zu nutzen gelernt. Singen kann den Ergebnissen zufolge also auch schon bei Kindergartenkindern als physischer, psychischer und sozialer „Gesundheitserreger“ wirken.

Neurobiologische Befunde

Die Wissenschaft hat sich zuvor nicht sonderlich für das Singen und seine Funktionen für das Menschsein interessiert. Das beginnt sich seit der Veröffentlichung der hier vorgestellten Forschungsergebnisse schritt- weise zu ändern. Die früheren sozialwissenschaftlichen Befunde wurden durch erste neurobiologische Untersuchungen grundlegend bestätigt und erklärt.
Zusammenfassend schreibt der Neurobiologe Hüther in einer Expertise unter dem Titel „Singen ist Kraftfutter für Kinderhirne“: „Es ist eigenartig, aber aus neurowissenschaftlicher Sicht spricht alles dafür, dass aus der Perspektive einer Leistungsgesellschaft die scheinbar nutzloseste Leistung, zu der Menschen befähigt sind – und das ist unzweifelhaft das unbekümmerte, absichtslose Singen – den größten Nutzeffekt für die Entwicklung von Kindergehirnen hat. Und wer seine Singfähigkeit in der Kindheit entfalten konnte, der kann diese Effekte später über den ganzen Lebens- bogen bis ins Alter nutzen. Denn Singen fördert in jeder Lebensphase die Potentialentfaltung des Gehirns.“

Singen fördert nachweislich nicht nur die Sozialkompetenz und aktiviert im Gehirn die Produktion des Bindungshormons Oxytocin, das für die Beziehungsfähigkeit und das Mitgefühl verantwortlich ist. Wir brauchen Oxytocin, um Mitgefühl empfinden und uns sozial verhalten zu können. Über die Ankurbelung der Bindungshormone stärkt gemeinsames Singen die sozialen Bindekräfte und den Gemeinsinn und wird somit potenziell zum Gestaltungsmittel für soziale Gemeinschaften. Singen baut die Aggressionshormone Adrenalin, Testosteron und Kortisol ab. Singen fördert so die Friedfertigkeit. Welche Bedeutung ein bewusster Einsatz des einfachen Singens allein unter diesem Aspekt für unsere Gesellschaft haben kann, kann man sich leicht vorstellen. In der UNO gibt es von Verantwortlichen warnende Stimmen, dass der Mangel an Empathiefähigkeit und die emotionale Verarmung der Kinder weltweit in den nächsten zehn bis 20 Jahren zu einem der größten Probleme der Menschheit werden könnte.

Singen aktiviert die neuronalen Motivationssysteme und fördert so die Lernfähigkeit und die Randbedingungen für Lernen. Gemeinsames Singen ist für die gesunde Entwicklung von Kinderartenkindern besonders wichtig, weil es als gelingende Beziehung bewertet werden kann und Beziehung die wichtigste Grundlage für die Entwicklung von Kindern darstellt.

Ob Kind oder Greis: Der Mensch kurbelt durch sein Singen, wenn er ohne Leistungsstress singt, unwillkürlich die Produktion sogenannter Glückshormone wie Beta-Endorphin, Noradrenalin und Serotonin an. Diese Hormone führen zu Ruhe, Zufriedenheit und Gelassenheit, bei erhöhter Konzentration kommt es zu Hochgefühl und Euphorie. Angst, Depression und aggressive Verstimmungen werden durch Serotonin gedämpft. Noradrenalin macht uns hellwach, leistungsfähiger und stärkt unsere Motivation, aktiv zu werden. Es treibt uns an, bewirkt positive Gefühle, eine optimistische Grundhaltung. Menschen sind also in der Lage, sich in einen glücklichen Blick auf die Welt zu singen, was ihre konstruktive Handlungsfähigkeit erhöht und antidepressiv wirkt.

Natürlich kann Singen, wie jede menschliche Fähigkeit, auch missbraucht werden. Das zeigt die Geschichte. Die beschriebenen Wirkungen führen nicht automatisch zum Guten. Dieser Aspekt bleibt immer wichtig und übersteigt den gegebenen Rahmen. Auch die Frage, wie man Kinder spielerisch und jenseits von Leistung und Bewertung angemessen dabei unterstützt, ihre Singfähigkeit zu entfalten, kann hier nicht ausgeführt werden. Das wird jedoch entscheidend für den Erfolg diesbezüglicher praktischer Programme sein.

Praxistransfer: Das Kita-Programm Canto elementar Es gibt bundesweit erfreulicherweise seit einiger Zeit einige Programme zum Singen mit Kindern. Für Kindergartenkinder ist es dabei wichtig, dass das Singen ganz natürlich in den Alltag integriert ist und sie durch einfaches Dabeisein von Vorbildern spielerisch und ohne Leistungsdruck zum Singen begeistert werden. Das geht nur, wenn die Erwachsenen selbst aus Herz und Seele gerne singen und das auch in ihrem Alltag leben. Hier stehen wir vor einem Problem. Denn das ist nicht leicht in einem Ausbildungscurriculum von Erzieher(inne)n oder Musikpädagog(inn)en zu lernen, wenn diese das nicht mehr in ihrer Kindheit erfahren durften.

Die Einbeziehung von ehrenamtlichen Senior(inn)en, für die das einfache Singen in ihrer Kindheit eine Lebensfreude war, bietet eine grundsätzlich für alle Kinder realisierbare Chance zur Überbrückung dieser Problematik. Das Generationen verbindende Singpatenprogramm Canto elementar von Il canto del mondo – Internationales Netzwerk zur Förderung der Alltagskulturen des Singen e.V. wurde als Konsequenz der benannten Forschungsbefunde im Jahre 2001 entwickelt und schrittweise in die Praxis getragen. Es birgt durch seinen Aufbau ein besonders großes Potenzial zur Lösung der anstehenden Aufgabe, ausnahmslos alle Kita-Kinder zu erreichen.

In diesem Programm gehen ehrenamtliche Singpat(inn)en in einer Gruppenstärke von etwa zehn Personen wöchentlich in die Kitas und singen mit den Kindern in großfamiliärer Atmosphäre vor allem die traditionellen deutschen Lieder, mit denen sie aus ihrer Kindheit positiv verbunden sind und die auch heute unter neuen pädagogischen Gesichtspunkten noch geeignet erscheinen. Es geht dabei um Beziehungsaufbau und ein spielerisches Singen.

 

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